EU-Migrationspolitik: "Wir brauchen mehr Solidarität!"

Interview

Wie sieht die Zukunft des EU-Asylsystems aus und welche Auswirkungen hat COVID-19 auf den Zusammenhalt innerhalb der Europäischen Union? Eine Diskussion über Dysfunktionalität und mögliche Lösungsansätze.

Erik Marquardt, Mitglied des Europäischen Parlaments, und Josephine Liebl, Head of Advocacy von ECRE, im Gespräch mit Anna Schwarz, Leiterin des Globalen Transformationsprogramms, Heinrich-Böll-European Union.

EU-Migrationspolitik

Die EU-Kommission hatte für Anfang des Jahres angekündigt, einen „New Pact on Migration and Asylum“ zu veröffentlichen. Vermutlich auch bedingt durch die COVID-19 Pandemie ist die Veröffentlichung mehrmals verschoben worden. Abgesehen von der COVID-19 Krise, wo hakt es aktuell? Und was sind Eure Erwartungen und Befürchtungen für den Pakt?

Erik Marquardt: Ich glaube, die Kommission weiß selbst nicht genau, wann der richtige Zeitpunkt ist, den Pakt zu veröffentlichen und was dieser beinhalten sollte. Die Mitgliedstaaten liegen bei diesem Thema sehr weit auseinander. Es sind daher nicht die Kommission oder das Europäische Parlament, an denen eine Reform des europäischen Asylsystems scheitert, sondern die Nationalstaaten.

Es gibt ja auch bereits einen europäischen Rechtsrahmen. In der Praxis weicht die Asylpolitik nur weit von diesem ab. Ich fürchte, der neue Pakt wird keine Verbesserung bringen, sondern die aktuelle Praxis in Gesetze gießen: den Menschen wird der Zugang zu rechtsstaatlichen Verfahren verwehrt, sie werden erniedrigt und müssen zum Teil über Jahre in unwürdigen Bedingungen leben. Das hat nichts mit europäischen Werten oder den europäischen Möglichkeiten zu tun, Menschen in Not zu helfen. Ich kann nur hoffen, dass die Debatte über das neue Asylsystem klarmacht: Migration ist nichts Schlimmes. Die EU verfügt über eine Erfolgsgeschichte der Migration. Daher sollte sie sich als Vordenkerin einer globalen Migrationspolitik sehen. Es gilt eine Zukunftsvision zu entwickeln und damit ein robustes Asylsystem zu schaffen, welches die Menschenwürde in den Vordergrund stellt und ein gutes Management von Migrationsbewegungen gewährleistet.

Erik Marquardt

Erik Marquardt

Erik Marquardt ist Mitglied des Europäischen Parlaments. Er ist Sprecher der deutschen Grünen Delegation für Migrations- und Asylpolitik. Bevor er Abgeordneter im Europäischen Parlament wurde, war Erik Marquardt als Fotojournalist tätig und berichtete unter anderem über die Lage von Flüchtlingen auf der Balkanroute, in Griechenland und im Mittelmeerraum. Er organisierte zahlreiche Ausstellungen und Vorträge, um die Lebenssituation der Flüchtlinge zu verdeutlichen und ein weitreichendes Bewusstsein zu schaffen. Er war an mehreren zivilen Seenotrettungsmissionen im Mittelmeer beteiligt und unterstützt die Arbeit ziviler Seenotrettungsorganisationen.

Josephine Liebl: Befürchtungen von unserer Seite gibt es viele: eine Sorge ist, dass sich der gegenwärtige Trend der Verschiebung von Verantwortlichkeiten für Asyl fortführt. Zurzeit sind alle Mitgliedstaaten der Meinung, andere Mitgliedstaaten und Drittstaaten müssten mehr Verantwortung in der Asylpolitik übernehmen und dass die Lösung für alles in höheren Rückkehrzahlen liegt. Eine weitere große Befürchtung ist, dass sich nichts an der Dysfunktionalität und der Unmenschlichkeit des jetzigen Asylsystems verändert. Die Diskussion und die Vorschläge zu EU-Grenzverfahren sind für uns ein großer Indikator, dass diese unsolidarische Verteilung innerhalb der EU weiter vorangetrieben werden wird.  Was wir hoffen ist, dass in funktionierende, gerechte Asylsysteme in allen EU-Mitgliedsstaaten investiert wird. Ein prinzipientreuer Weg für eine gemeinsame Asylpolitik beinhaltet rechtsstaatliche Verfahren in allen EU-Mitgliedstaaten. Eine weitere wichtige Frage ist für uns die der Inklusion: Wie gehen wir mit Menschen um, die neu nach Europa gekommen sind?

In den letzten Jahren hat sich die Situation für Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa kommen zunehmend verschärft. Ganz aktuell im Zuge der COVID-19-Pandemie haben Italien und Malta angekündigt aus Seenot Gerettete nicht in ihre Häfen zu lassen. Wie kann man diese völlig verfahrene Situation auflösen?

Erik Marquardt: Die Entscheidung Menschen in Seenot nicht zu retten, ist absolut unmenschlich. Die EU-Kommission und die Bundesregierung betonen allerdings immer wieder, Seenotrettung läge nicht in ihrer Zuständigkeit. Darüber hinaus hat die EU eine absolut scheinheilige Haltung zu Libyen. Einerseits hält man außen- und verteidigungspolitische Reden darüber, wie schlimm die Lage in Libyen sei. Andererseits zieht man nicht die Konsequenz, dass die Europäische Union in der Verantwortung ist sichere Fluchtwege für Menschen zu gewährleisten, die aus dem libyschen Bürgerkrieg fliehen.  Organisationen und Menschen, die der Politik der Abschottung etwas entgegensetzen wollen, werden kriminalisiert. Um die Situation aufzulösen, könnten einzelne Mitgliedsstaaten Rettungsschiffe entsenden. Auch Bundesländer könnten sich entweder durch eigenen Schiffen oder finanzielle Unterstützung von Hilfsorganisationen in der Seenotrettung einbringen. Es ist wichtig, dass Akteure auf verschiedenen Ebenen zusammenarbeiten. Es gibt viele Kommunen, Regionen in Europa und auch deutsche Bundesländer, die gerne Menschen aufnehmen würden. Auch hier sind es die nationale Regierung, die blockieren. Perspektivisch brauchen wir eine europäische Seenotrettung und auch einen Verteilungsmechanismus, wobei der keine Voraussetzung für die Seenotrettung sein kann.

Josephine Liebl

Josephine Liebl

Josephine Liebl leitet die Advocacyarbeit des European Council on Refugees and Exiles (ECRE). ECRE ist ein paneuropäisches Bündnis von 106 NGOs zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Flüchtlingen, Asylsuchenden und Vertriebenen. Zuvor arbeitete Josephine als Referentin für humanitäre Politik bei Oxfam und als Senior Policy Officer im European Peacebuilding Liaison Office. Zuvor hatte Josephine Positionen bei der European Coalition for Corporate Justice, dem Deutschen Institut für Menschenrechte und in der Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA) inne.

Josephine Liebl: Was wir gerade auf Malta sehen ist die furchtbare Konsequenz der Dysfunktionalität und der Unmenschlichkeit des jetzigen Asylsystems.

Die Reaktion der Politiker der EU-Mittelmeerstaaten, hat viel damit zu tun, wie allein gelassen sich diese Regierungen fühlen. Ähnlich haben wir das in den letzten Jahren bei Matteo Salvini gesehen. Der Mangel an Solidarität und konkreten Zusagen von anderen Mitgliedstaaten setzt die EU im Ganzen einer Erpressbarkeit von gewissen Mitgliedstaaten aus.

Die EU hat in Reaktion auf die Pandemie auf unbestimmte Zeit ihre Resettlement Programme ausgesetzt. Worauf kommt es da aus Eurer Sicht in den nächsten Jahren an? 

Josephine Liebl: In den letzten Jahren gab es sowohl einen Anstieg der Zahlen von Geflüchteten, die durch die EU-Mitgliedstaaten umgesiedelt wurden als auch die Anzahl der Länder, die sich daran beteiligt haben. Im letzten Jahr konnten etwas mehr als 25.500 Menschen durch Resettlement in sechzehn EU-Mitgliedstaaten ein neues Leben beginnen. Im Dezember 2019 hat die EU gemeinschaftlich entschieden im Jahr 2020 30.000 Menschen aufzunehmen. Das ist immerhin ein Anstieg. In einer Situation, in welcher laut UNHCR weltweit 1,4 Millionen Menschen Resettlement als Option bräuchten, ist das allerdings noch immer nicht ausreichend. Wir sind jedoch sehr besorgt, dass durch COVID-19 die Resettlement-Programme ausgesetzt wurden. Dadurch wird das Ziel von 2020 nicht erreicht werden. Wir gehen davon aus, dass das auch Einfluss auf die Zahlen im nächsten Jahr haben wird. Es gibt natürlich auch andere Möglichkeiten Menschen aufzunehmen. Familienzusammenführung ist eine Möglichkeit, ebenso wie humanitäre Evakuierungen, insbesondere aus Libyen.

Erik Marquardt: Viele Staaten haben es sich sehr einfach gemacht im Schatten der COVID-19 Krise, die Resettlement-Programme auszusetzen und Familienzusammenführungen weiter zu beschränken. Damit sind sie mit denen, die in der größten Not sind, am wenigsten solidarisch. Das Ziel sollte sein, immerhin die 30.000 einzuhalten. Zusätzlich muss man sich Gedanken über den Umgang mit jenen Menschen machen, die gerade in äußerst geringer Zahl irregulärin Europa ankommen.

Der EU-Kommission ist in den letzten Jahren im Bereich Migrationspolitik auch das Thema Rückführung sehr wichtig. Sie hat immer wieder eine effektive Rückführungspolitik der Mitgliedsstaaten gefordert, was für sie bedeutet, möglichst viele Leute rückzuführen. Was sind Eure konkreten Forderungen für die Rückführungspolitik der EU?

Josephine Liebl: Die Suggestion, man könne nur eine funktionierende und humane Asylpolitik betreiben, wenn man Rückkehrzahlen erweitert ist nachweislich falsch.

Wenn Regierungen aber Rückführungen durchführen, müssen dabei auf jeden Fall drei Voraussetzungen erfüllt sein. Die erste ist ein faires Asylsystem innerhalb Europas, welches grundlegend analysieren kann, ob das Recht auf Asyl besteht und ob im Falle einer Rückführung Menschenrechtsverletzungen drohen. Das ist unserer Meinung nach im Moment nicht gegeben, was ein Blick auf die Divergenz zwischen der Asylanerkennungsrate zwischen verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten beweist. Zweitens braucht es faire Rückkehrprozesse. Die Priorität sollte immer bei einer freiwilligen Rückkehr liegen, bei der die Individuen sowie ihre Familien und die Gesellschaften im Rückkehrland unterstützt werden. Der dritte Punkt ist die Notwendigkeit fairer und transparenter Partnerschaften mit Drittländern, die sich eines Monitorings des Europäischen Parlaments unterziehen müssen.  Außerdem muss die Nutzung von Entwicklungsgeldern, um Drittländer dazu zu bringen auch im Bereich Rückführung mit EU-Mitgliedsstaaten zu kooperieren, aufhören. Das widerspricht allen Prinzipien der Entwicklungszusammenarbeit und führt zu ineffektiver und fehlgeleiteter Entwicklungszusammenarbeit. Auch macht sich die EU damit erpressbar und verringert ihr Standing als außenpolitische Akteurin.

Erik Marquardt: Was mich wirklich an der Debatte stört ist, dass die Entrechtung von Menschen die schutzbedürftig sind einfach so hingenommen wird. Aber in Bezug auf Rückführung wird die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit gefordert. Es ist für alle schlecht, wenn Menschen als einzige Bleibeperspektive ein Leben außerhalb der Gesellschaft ohne Arbeitsrecht oder Status bleibt. Es ist wichtig im Einzelfall zu schauen, ob und wie man einen legalen Status herbeiführen kann. Grundsätzlich darf es keine Rückführungen in Kriegs- und Krisengebiete geben. Und man muss den Menschen genug Zeit und Möglichkeiten geben, die rechtlichen und finanziellen Grundlagen zu schaffen, sich in dem entsprechenden Land ein Leben aufzubauen. Die Menschen perspektivlos abzuschieben, führt mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu, dass sie wieder nach Europa kommen wollen. Es ist in diesem Zusammenhang auch sehr wichtig Migrationsmöglichkeiten für gering Qualifizierte zu bieten. Die COVID-19 Krise sollte uns da eine Lehre sein: Insbesondere diese Menschen üben systemrelevante Berufe aus.